Manchmal darf der Himmel voller Geigen hängen. Es geht uns gut und wird uns bald noch besser gehen, denn unsere Gesellschaft trainiert gerade ihre Muskeln: Sie wird lernen, besser auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, und sie wird Wohlstand aus dem Nichts schaffen. Wie das geht? Mit den Prinzipien der Verhaltensökonomie und mit immateriellen Investitionen.
Worte sind oft machtlos. Doch andere, großartige Worte können neuen Sichtweisen auf die Gesellschaft eine Gestalt geben und praktisch nutzbare Begriffe und Sprechweisen erschaffen. Begriffe und Sprechweisen, die dann zu Werkzeugen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden. Sie ermöglichen es der Gesellschaft und ihrer Politik, sich zu erneuern.
Werkzeug 1: Die neuen Begriffsbildungen der Verhaltensökonomie der letzten Jahrzehnte sind der größte Hoffnungsträger, wenn es darum geht, einige wichtige Defizite wirtschaftlicher Theorien zu überwinden. Der Psychologe Daniel Kahneman hat mit Kollegen gezeigt, dass das rationalistische Menschenbild der klassischen Volkswirtschaftslehre als grundlegende Abstraktion der volkswirtschaftlichen Modellbildung ungeeignet ist. Die Präferenzen realer Menschen und ihr davon abgeleitetes Verhalten folgen in wichtigen Entscheidungssituationen ganz anderen Regeln. Kahnemans leicht verständliche Zusammenfassung seiner Ergebnisse im Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ verschafft dem Leser nicht nur atemberaubende Aha-Erlebnisse zum Verständnis eigener und fremder Entscheidungen, sondern ebnet tatsächlich auch den Weg zu einer neuen Art von Politik.
Eine erste, bereits einflussreiche Variante einer Politik, die auf Kahnemans Ergebnissen beruht, ist der Ansatz der „Nudges“ (kleiner Anstöße) nach dem gleichnamigen Buch von Richard H. Thaler. In diesem verhaltensökonomisch aufgeklärten Politikansatz wird versucht, Menschen durch subtile Anreize zu gesellschaftlich wünschenswertem Verhalten anzuleiten.
noch mehr Sprengkraft haben die Überlegungen zur Glücksforschung in den letzten Kapiteln von Kahnemans Buch.
Dort beschreibt der Autor die Ergebnisse von Experimenten zur subjektiven Bewertung von negativen und positiven Empfindungen. Sowohl im Negativen als auch im Positiven entsprechen unsere subjektiven Eindrücke keineswegs einem simplen Aufsummieren der negativen bzw. positiven Empfindungsstärke über einen Zeitraum. Für negative Empfindungen zeigt Kahnemann, dass vor allem, einerseits, der größte momenthafte Negativausschlag und, andererseits, die Empfindung am Ende eines Beobachtungszeitraums für die subjektive Bewertung und Erinnerung an negative Erlebnisse ausschlaggebend sind (gemessen wurde das übrigens an Kolonoskopien). Bei positiven Empfindungen jedoch, zeigen Kahnemans Experimente, ist die Frage der subjektiven Bewertung des erfahrenen Glücks ungleich komplizierter und uneindeutiger – simple Bewertungsformeln sind hier bisher nicht möglich. Die Glücksforschung und Glücksökonomie steht noch vor großen ungelösten Rätseln, doch eines ist klar: Ganz analog zu den Modellbildungen der Volkswirtschaft werden sich auch die Optimierungsziele einer am Gemeinwohl orientierten Politik unter den neuen Bedingungen interaktiver sozialer Medien in Zukunft viel stärker an den tatsächlichen Glücks-Prioritäten der Bürgerinnen und Bürger orientieren können und müssen. Vielleicht ist ja die Frage nach der richtigen Bewertung von Glück keine, die abschließend beantwortet werden kann: Dann werden sich in Zukunft konkurrierende Parteien nicht durch unterschiedliche vertretene Partikularinteressen unterscheiden, sondern durch unterschiedliche Glückstheorien.
Werkzeug 2: Begrifflich zum jetzigen Zeitpunkt weniger eindeutig, doch ebenso von enormer Bedeutung ist das gerade entstehende Verständnis der Veränderung dessen, was in entwickelten Volkswirtschaften eigentlich produziert wird: Nämlich in zunehmendem Ausmaß Immaterielles – wenn man so will, Luft:
Die Zukunft gehört nicht dem Fitnessstudio mit seinen Trainingsgeräten, sondern dem markengeschützten und weltweit lizensierten Trainingsprogramm mit ausgewählter Musik-Playlist.
Dazu haben Jonathan Haskell und Stian Westlake ein bemerkenswertes Buch geschrieben, das 2017 erschienen ist: „Capitalism without Capital – The Rise of the Intangible Economy“. Aus der Schätzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in 11 OECD-Ländern ergibt sich: In den letzten Jahren hat die Summe der immateriellen Investitionen jene der materiellen Investitionen eingeholt und besonders in den angelsächsischen Volkswirtschaften bereits deutlich überholt. Was sind immaterielle Investitionen und was bedeutet dieser Trend? Gestützt auf Systematisierungsbestrebungen in der internationalen Wirtschaftsstatistik unterscheiden die Autoren drei Hauptkategorien mit Unterkategorien:
- Computer-Information, mit den Unterkategorien Software Entwicklung und Datenbanken
- Innovationseigentum, mit den Unterkategorien F&E; Suche nach Bodenschätzen; Produktion von Unterhaltung und künstlerischen Originalwerken; Design und andere Produktentwicklungskosten
- Ökonomische Kompetenzen, mit den Unterkategorien Aus- und Weiterbildung; Marktforschung und Branding; Geschäftsprozess-Reengineering
Für Leser, die dabei in erster Linie an die Digitalisierung denken, sei gesagt, dass in vergleichenden Betrachtungen dieser drei Hauptkategorien die Computer-Information zumindest monetär einen eher untergeordneten Stellenwert hat. Vier Eigenschaften kennzeichnen immaterielle Investitionen viel mehr als physische Investitionen – und diese Eigenschaften sind es, die bereits begonnen haben, das Wirtschaftsgefüge grundlegend zu verändern:
- Skalierbarkeit – einmal erzielt, kann sich das Ergebnis einer immateriellen Investition explosionsartig ausbreiten
- Verlorene Kosten – die finanzielle Bewertung immaterieller Investitionen ist erschwert, weil diese im Unterschied zu physischen Investitionen später meist nicht ohne Weiteres an Dritte abgegeben werden können
- Spillovers – der Nutzen einer immateriellen Investition kommt oft auch anderen Akteuren zugute als dem Investor, was die Beurteilung der Kosten-Nutzen Relation erschwert und oft nach Engagement des Staates ruft
- Synergien – unbeeinflusst von materiellen Grenzen können sich die Effekte immaterieller Investitionen in schwer vorhersehbarer Weise gegenseitig beeinflussen und verstärken
Der Hauptteil des Buchs von Haskell und Westlake beschäftigt sich mit Vorhersagen, welche Wirkung diese Eigenschaften eines immer größeren immateriellen Anteils der wirtschaftlichen Aktivität auf das Wirtschaftsgefüge und die Gesellschaft haben werden – und diese Auswirkungen sind nach Einschätzung der Autoren teilweise dramatisch.
- Die „Säkulare Stagnation“, also die These, dass in den letzten Jahren das Produktivitätswachstum reicher Volkswirtschaften stark nachgelassen hat, könnte darauf zurückzuführen sein, dass Unternehmen den ungewissen Verwertungsaussichten eigener immaterieller Investitionen mit unproduktiven Defensivmaßnahmen begegnen und Investitionen verzögern – z.B. durch Lobbying bei Regulierungsinstitutionen oder Rechtberatung. Der Staat wäre dann aufgerufen, rasch neue, vertrauenswürdige institutionelle Arrangements herzustellen.
- Der Trend zu immateriellen Investitionen verstärkt auf drei Ebenen die Ungleichheit: 1. Ungleichheit der Einkommen, weil dominierende Unternehmen in der immateriellen Volkswirtschaft im Recruiting-Wettbewerb um die „Star-Performer der Symbolmanipulation“ stehen und diese im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern fürstlich remunerieren. 2. Ungleichheit des Wohlstands, weil die Suche nach Synergien reiche urbane Regionen gegenüber benachteiligten Regionen weiter stärkt. Dabei besteht eine hohe Fluchtbereitschaft großer Vermögen, was deren Besteuerung erschwert. 3. Ungleichheit der gesellschaftlichen Anerkennung, weil die Verlierer der neuen immateriellen Wirtschaftsordnung sich oft kulturell gering geschätzt fühlen und so populistisch mobilisierbar sind.
- Die Infrastruktur eines immateriellen Wirtschaftssystems beruht ihrerseits entscheidend auf immateriellen Faktoren, wie dem Ausmaß von Vertrauen und sozialem Kapital, das ein Standort bereitstellen kann.
- Auch Finanzierungsmodelle und Managementmodelle eines immateriellen Wirtschaftssystems werden von der Schwierigkeit der Bewertung von Einzelinvestitionen geprägt sein. Manche Unternehmen werden im Wettbewerb der Kreativitität offene Kulturen des Ermöglichens entwickeln – andere hingegen die strikte Kontrolle ihrer Mitarbeiter perfektionieren, um ungünstige Spillovers nach außen zu vermeiden.
Für die Politik sehen die Autoren einige schwierige Herausforderungen. Sie erwarten insgesamt eine vergrößerte Rolle des Staates, etwa in Subventionen für Forschung und Entwicklung aber auch für andere immaterielle Investitionen, in denen sich private Investoren aufgrund ungünstiger Verteilungen von eigener und fremder Rendite sonst zurückhalten. Staaten müssen klare Regeln und auch Märkte für geistige Schutzrechte und immaterielle Assets wie Daten schaffen. Sorgfältige Stadt- und Regionalplanung muss die Bedingungen für immateriellen Austausch und Synergien herstellen. Innovative Steuersysteme erleichtern die Finanzierung immaterieller Investitionen, wobei der Staat im Notfall als Investor einspringt, um optimale Investitionsniveaus zu erreichen. Dazu gehören auch staatliche Investitionen in Kunst und Kultur, sowie in Aus- und Weiterbildung. All das erfordert eine kompetente, korruptionsfreie staatliche Verwaltung, die mit ausreichenden finanziellen Ressourcen ausgestattet ist. Da der Staat zunehmend auch als Investor auftreten soll, empfehlen die Autoren, dass er andererseits in verstärktem Maße auch versuchen soll, finanzielle Gewinne aus erfolgreichen Investments zu ziehen, um seinen Handlungspielraum ohne eklatante Steuererhöhungen zu vergrößern – etwa indem er Anteile an innovativen Wachstumsunternehmen hält. Klar ist auch, dass politische Überzeugungsarbeit notwendig sein wird, um an den Wahlurnen Unterstützung für ein derartiges Modell eines neuen, interventionistischen Staates zu gewinnen. Bisher waren Investitions- und Infrastrukturfragen kein Thema im Zentrum der politischen Debatte – dies wird sich ändern müssen. Kleine offene Volkwirtschaften – wie Österreich – könnten in den neuen Politikfeldern Vorteile haben, sofern es ihnen gelingt, ihre starke soziale Kohäsion und überschaubare Strukturgrößen auszunützen. Dennoch muss klar sein, warnen Haskell und Westlake abschließend: Die Bewältigung all dieser Aufgaben unter den Bedingungen wachsender Ungleichheit ist eine große politische Herausforderung.
Obwohl einige der Vorhersagen in Haskell und Westlakes „Capitalism without Capital“ durchaus spekulativer Art sind, wie die Autoren freimütig einräumen, schafft das Buch doch eine insgesamt überzeugende Synthese einiger Themen, die in den letzten Jahren mit einem gewissen Unbehagen diskutiert werden: Negative Trends werden sichtbar – bei der Produktivität, bei der Ungleichheit, in der Demokratie, in der Abtrennung der Wirtschaft von den Realien – und doch ist unsicher, wohin uns die Reise führt. Haskell und Westlake betonen immer wieder, dass der Übergang zu immateriellen Investitionen nicht in einem großen, disruptiven Sprung passiert, sondern als langsame Verschiebung von Gewichten in der Volkswirtschaft. Aber sie zeigen auf, dass es möglich und notwendig ist, die neuen Herausforderungen zusammen zu denken, in einem breiten begrifflichen Rahmen, der inneren Notwendigkeiten wirtschaftlicher Entwicklungen folgt. Die politischen Maßnahmen, die hier geboten scheinen, sind vielfältig und werden beharrliche Arbeit erfordern. Doch wird nun klar, wie das Spiel heißt, das gespielt werden will.
Eine kleine, offene Volkswirtschaft wie die österreichische hat gute Voraussetzungen, um sich auf diesem Spielfeld rasch zu bewegen. Die verhaltensökonomische Aufklärung, die von Autoren wie Daniel Kahneman vorbereitet wurde, hat ihrerseits gezeigt, dass die Bürger, denen demokratische Politik zu dienen hat, keine rationalistischen Maschinen sind, sondern Menschen, die in der ihnen gemäßen Weise angesprochen werden wollen, um die allgemeine Wohlfahrt im Sinn der Glücksforschung zu optimieren. Zusammengedacht sagen uns diese beiden neuen Begriffswerkzeuge: Es ist jede Menge dringend zu tun, und für kleinliche Politik der alten Sorte gibt es keinen Platz mehr – machen wir uns also lieber ans Neue!