Donnerstag, Oktober 9, 2025

Migration 2050: Demographie zählt, aber Menschen sind keine Maschinen

Alle reden über Migration, alle sind sich uneinig. Denn was wir über Einwanderung denken, ist nicht beliebig oder zufällig. Jeder von uns steht an einer besonderen gesellschaftlichen Position, fühlt sich unterschiedlich sicher oder bedroht, ist daher eher offen für Neues oder sucht nach Vertrautem. Der Begriff soziales Kapital beschreibt diese Merkmale jeder Person in der Gesellschaft. Wissenschafter unterscheiden drei Arten des sozialen Kapitals: Bonding-, Bridging- und Linking-Kapital. Veränderungen bei diesen Arten sozialen Kapitals machen verständlicher, warum wir uns bei Migrationsfragen so uneinig sind.

Bonding Kapital ist das, was wir im engsten Umfeld erleben: Die Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden. Bonding Kapital handhaben wir in einer homogenen Gruppe, die zu ihrem Außen klare Grenzen hat. Wie der amerikanische Soziologie Robert Putnam aufgezeigt hat, tritt das Modell der homogenen, geschlossenen Gruppe auch jenseits von Familie und Freundeskreis auf – und wird dann oft problematisch. Das beste Beispiel dafür sind kriminelle Banden. Sie bieten enge Beziehungen und versprechen ihren Mitgliedern Sicherheit – aber wer nicht dazugehört, wird als Feind bekämpft.

Bridging Kapital sind unsere schwächeren sozialen Beziehungen – „Freunde von Freunden“ und andere Formen des sozialen Brückenbaus. Robert Putnam hat diese losen Zusammenschlüsse in den letzten Jahrzehnten auf dem Rückzug gesehen, am Beispiel der amerikanischen Bowling-Clubs, die früher ganz verschiedene Menschen zusammengebracht haben. Auch in Europa sind die informellen gesellschaftlichen Verbände, von Kirchgang bis Trachtenverein, auf dem Rückzug. Gleichzeitig wird die berufliche Welt schneller und unberechenbarer, die Öffentlichkeit und Medienwirklichkeit werden globaler.

Linking Kapital meint die Beziehungen der Menschen zum Staat und den öffentlichen Einrichtungen. Ein Staat, in dem es ein gegenseitiges Grundvertrauen zwischen Funktionären und Bürgern gibt, hat Vorteile.

Besonders das Bridging Kapital einer Person und einer Gesellschaft ist entscheidend dafür, wie stark der Wunsch nach strikten Grenzziehungen ausfällt.

Wer sich im Wohnumfeld, im öffentlichen Raum, in der erlebten Kultur, dem medialen Mainstream und im Arbeitsleben isoliert und unverstanden fühlt, der wird sich aus dem Öffentlichen zurückziehen und vor allem danach trachten, sein Bonding Kapital zu beschützen. Im Zusammenhang mit Einwanderung bedeutet das für solche Menschen: Starke Ablehnung von allem, was die eigene empfundene Isolation in der Gesellschaft noch zu verstärken droht, daher klares Nein zu Einwanderung von außerhalb der „Wir“-Gruppe.

So weit, so bekannt aus aktuellen Wahlergebnissen in vielen Ländern, auch in Österreich. Doch stehen die Einwanderungsverweigerer auf längere Sicht vor einem großen Problem, nämlich den demographischen Trends in Europa und anderswo. Eine aufrüttelnde Aufbereitung dieser Zusammenhänge findet sich in dem in Frankreich erschienen Buch des Afrika-Kenners Stephen Smith, La ruée vers l’Europe – Ansturm auf Europa.

Aufgrund der Altersstruktur in der EU und aufgrund der demographischen Trends wird die Bevölkerung der EU (inklusive Großbritannien) von ca. 500 Milionen bis 2050 leicht fallen. Dabei wird allerdings die Anzahl der 20-64 Jährigen um ca. 50 Millionen Menschen zurückgehen und die Anzahl der über 65 Jährigen um ca. 50 Millionen Menschen steigen. Durch die rapide Verschlechterung des Schlüssels von Berufstätigen zu Nicht-Berufstätigen wird es unausweichlich zu einer starken Belastung der Sozialbudgets kommen, mit Verteilungskonflikten innerhalb der Bevölkerung.

Ein Blick über das Mittelmeer nach Afrika zeigt hingegen: Die Bevölkerung Afrikas wird sich von 2015 bis 2050 von 1,2 Milliarden Menschen auf 2,5 Milliarden Menschen verdoppeln und der Altersschnitt der Afrikaner wird weiterhin sehr niedrig bleiben. Das Verdienst des Buchs von Stephen Smith, auf das deshalb z.B. auch der französische Präsident Macron gern verweist, ist, dass es eine nüchterne Beschreibung der Auswanderungsmotive im Afrika südlich der Sahara gibt und die Beziehung herstellt einerseits zum demographischen Rückgang in Europa und andererseits zu den großen Wanderungsbewegungen zwischen Südamerika/Mexiko und den USA in den letzten Jahrzehnten.

Denn was bedeutet eine derartige demographische Explosion für die Menschen in Afrika? Afrika ist heute ein unterentwickelter Kontinent, in dem in den meisten Ländern das Wirtschaftswachstum nicht ausreicht, um kontinuierlich so viele Heranwachsende zu integrieren. Aber auch staatliche Infrastrukturen, zum Beispiel die ohnehin desolaten Schulsysteme, sind überfordert, wenn Jahr für Jahr mehr Kinder eingeschult werden sollen – es müssten ja immer neue Schulen eröffnet werden, was aber nicht passiert.

Die Konsequenz: Die Jungen in Afrika verlassen ihre Dörfer und ziehen in die Städte. Dabei lassen sie den familiären Verband zurück und verstärken am Rand der großen afrikanischen Städte Zuwanderermilieus, in denen es kaum ältere Menschen und Bezug zu den traditionellen Sozialstrukturen gibt. Dazu kommt das Versagen der rasant wachsenden afrikanischen Städte, Wirtschaftswachstum und Jobs zu produzieren. In anderen unterentwickelten Teilen der Welt ging mit der Verstädterung immer ein breiter Wohlstandsgewinn einher – in Afrika aber nicht, die jungen Zuwanderer in afrikanischen Megastädten wie dem nigerianischen Lagos bleiben arm, unterbeschäftigt und in vielen Fällen perspektivlos. Die erste oder zweite Migration, die Loslösung aus dem Familienverband liegen aber bereits hinter ihnen – die nächste Migration soll dann in eines der reichen Länder führen, die aus TV, Internet und Erzählungen vertraut scheinen. Dafür bringen diese jungen Afrikaner ihre Energie und ihren Lebenswillen mit, aber kaum jene Kompetenzen, die am europäischen Arbeitsmarkt zählen würden.

Diese Energie und der erwartbare Ansturm treffen allerdings auf ein Auswanderungsziel Europa, das in vieler Hinsicht nicht imstande ist, mit massiver afrikanischer Einwanderung fertig zu werden.

Das gilt auf mehreren Ebenen: Rein rechnerisch, weil der Zahlenvergleich das Missverhältnis zwischen der europäischen und afrikanischen Bevölkerung zeigt. Wirtschaftlich, weil die Einwanderer nicht jene Kompetenzen mitbringen, die Europa im 21. Jahrhundert benötigt, und auch weil das europäische Sozialstaatsmodell anders als das amerikanische das gleichgültige Schulterzucken gegenüber wirtschaftlich scheiternden Einwanderern nicht kennt – noch nicht kennt. Migrationsbürokratisch, weil, wieder im Gegensatz zur amerikanischen Situation, es in Europa gescheiterten Einwanderern kaum möglich ist, in ihre Heimatländer zurückzukehren, ohne dadurch jegliche Chance auf erneute Einwanderung zu verlieren. Und schließlich kulturell und politisch, weil Europa gerade eine Krise des Bridging Kapitals erlebt und der Meinungstrend in Richtung Grenzbefestigung statt Grenzöffnung zeigt.

Einfache Antworten gibt es hier nicht, Smith hält sowohl das Festungsmodell Europa als auch liberale Grenzöffnung und erst recht koloniale Phantasien („Marschallplan“) für illusorisch: Afrika wird sich entwickeln, aber es ist schlicht zu groß, um nachhaltige Entwicklungsprozesse von Europa aus zu steuern. Was uns erwartet, ist ein beschwerlicher Verhandlungsprozess im Sinn des Bastelns, in dem europäische und afrikanische Realitäten zur Kenntnis genommen werden müssen. Mit kurzsichtiger Naivität wie in der zahlenblinden Politik des damaligen Bundeskanzlers Werner Faymann und von Kanzlerin Merkel im Herbst 2015, als die Grenzen nicht nur für Syrer sondern auch für Afghanen, Iraker, Pakistanis und Afrikaner geöffnet wurden, ist niemandem gedient.

Hausaufgaben sind zu erledigen: In Österreich bedeutet das, die verschiedenen Einstellungen in der Bevölkerung anzuerkennen, aufzunehmen und vor allem nicht zuzulassen, dass sie zu einer dauerhaften politischen Spaltung und gegenseitiger Verständnislosigkeit führen. Die dauerhaft niedergelassenen Menschen in Östereich befinden sich in verschiedenen persönlichen Situationen, haben verschiedene Bedürfnisse und Prioritäten. Bevor von ihnen Offenheit gefordert wird, muss die Republik ihren Bürgern wirtschaftliche, kulturelle und soziale Perspektiven schaffen, die erst den Wunsch zulassen, neue Kontakte und Brückenschläge zu suchen.

Solange diese inneren Voraussetzungen nicht geschaffen sind – und das sind sie derzeit nicht – ist ein restriktives Einwanderungs- und konsequentes Rückführungsregime unausweichlich (aber kein Grund für chauvinistischen Stolz) – gerade aus Gründen der gesellschaftlichen Integration, nämlich der inneren. Die Randbedingungen der Demographie bis 2050 lassen sich nicht wegwünschen, aber sie rechtfertigen nicht mechanische Zugänge zu Migrationsfragen: Einwanderung bleibt ein durch und durch politischer Prozess und muss verbindend und demokratisch gestaltet werden.

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