Der moderne Staat ist ein reichlich kompliziertes Wesen. Das gilt sogar in einem verhältnismäßig kleinen, wenn auch hoch entwickelten Land wie Österreich. Eine für den Einzelnen nicht überschaubare Vielzahl von organisatorischen Untereinheiten, die geregelten Arbeitsabläufen folgen, hält den Staat am Laufen. Wenn wir das Verhalten einzelner Politiker kritisieren, so benennen wir deshalb nur einen kleinen Störfaktor in einem großen System. Oft ist es dann einfach falsch, wenn wir einer einzelnen Person oder Partei die Schuld an einem Versagen des ganzen Staates zuschreiben. Hier ist wieder einmal Fred Sinowatz zu zitieren:
„Ich weiß schon, meine Damen und Herren, das alles ist sehr kompliziert so wie diese Welt, in der wir leben und handeln, und die Gesellschaft, in der wir uns entfalten wollen. Haben wir daher den Mut, mehr als bisher auf diese Kompliziertheit hinzuweisen; zuzugeben, daß es perfekte Lösungen für alles und für jeden in einer pluralistischen Demokratie gar nicht geben kann.“
Zu Unrecht wurde diese Redestelle zur spöttischen Charakterisierung eines glücklosen Politikers verkürzt. Der erste Satz ist vielmehr ein bewundernswertes Einbekenntnis eines Mannes, dem seine Grenzen bewusst waren. (Nur der zweite Teil des Zitats muss als verunglückt und naiv bezeichnet werden angesichts der Erwartungen der Öffentlichkeit an einen Bundeskanzler.)
Seien wir uns also mit Fred Sinowatz der Kompliziertheit bewusst. Aber erkennen wir auch die Gefahr, die in dieser Kompliziertheit steckt. Denn es kann passieren – und in Österreich ist es passiert – dass in den Nischen und Verästelungen des komplizierten Staates Wucherungen und Ablagerungen entstehen, die das Funktionieren behindern. Diese Wucherungen und Ablagerungen entstehen aus der Gewohnheit: Aus dem langen Anhalten stabiler Verhältnisse, aus dem 70-jährigen Nachkriegsfrieden, aus lebenslangen Beamtenkarrieren unter dem Schutz der Pragmatisierung, aus verfassungsrechtlich verankerten Sozialpartnern mit Pflichtmitgliedschaft, aus jahrzehntelanger Einübung der Großen Koalition. Dies alles funktioniert – aber gleichzeitig führt das immerwährende Funktionieren zu Ermüdungserscheinungen und strukturellen Problemen.
Ein interessanter politischer Begriff, der in den letzten Jahren in der Türkei aber auch den USA eine Rolle gespielt hat, ist der des Tiefen Staates, Deep State. In beiden Ländern meint der Begriff im engeren Sinn einen Staat im Staat, in der Türkei getragen von Elementen des Militärs, in den USA meint man den angeblich übergroßen Einfluss von ungewählten Karrierebeamten. Hier wie da weist die Begrifflichkeit Aspekte einer Verschwörungstheorie auf. So ist etwa offen, wie weit die Kreise des Tiefen Staates reichen – umfasst er auch die Anhänger des Predigers Gülen, meint er auch die liberalen Medienunternehmen in den USA? Ist es zulässig, den Kräften des Tiefen Staates eine bestimmte politische Absicht zuzuschreiben, oder passiert er einfach?
Aufgrund solcher Erwägungen scheint der Begriff des Tiefen Staates für die österreichische Situation ungeeignet. Eine absichtliche Verschwörung gegen die Demokratie ist in Österreich nicht auszumachen, etwas anderes zu behaupten würde einen Strohmann in die Debatte einführen, der Aufmerksamkeit auf sich zieht und von unseren eigentlichen Herausforderungen ablenkt. Es gibt zwar Lobbys mit eindeutigen Zielen wie die Industriellenvereinigung, aber mit Interessensvertretern muss ein demokratischer Staat fertig werden können.
Nein, für Österreich soll nicht von einem Tiefen Staat mit sinistren Absichten dunkler Kräfte die Rede sein, sondern von einem Staat, der in jahrzehntelanger Stabilität verwuchert und verwachsen ist – das ist Österreich 2017, der verwachsene Staat.
Oft muss man etwas genauer hinsehen, um den verwachsenen Staat in den Blick zu bekommen. Aber viele Österreicher wissen genau, was gemeint ist. Bei jedem Kontakt mit dem Staat besteht die Wahrscheinlichkeit, auf eine Ungereimtheit, eine Ungerechtigkeit zu stoßen. Da ist oft nichts illegal, und Korruption wäre ein zu starkes Wort. Aber viele staatliche Abläufe sind in einer Weise von den traditionellen Regierungsparteien SPÖ und ÖVP durchdrungen, die sachlich nicht zu rechtfertigen ist. Bestimmte Lebensläufe in staatsnahen Bereichen, bestimmte Formen des wirtschaftlichen Erfolgs sind nur mit Parteizugehörigkeit erklärbar. Manche Gesetze ergeben sich nur aus der Notwendigkeit für die Parteien, ihre Kernwählerschichten zu bevorzugen. Oft durchdringen Parteiprogramme wie selbstverständlich staatliche Aufgaben, zum Beispiel in den Lehrplänen öffentlicher Bildungseinrichtungen. In den Sicherheitsbehörden, im Beamtenapparat verhalten sich staatliche Organe wie selbstverständlich wie Propagandisten der einen oder anderen politischen Partei. Wer als unabhängiger Bürger hier seinen Protest anmeldet, muss mit Erschwernissen rechnen. Es wird dann zwar nicht gleich unmöglich, die staatliche Leistungen zu beziehen, aber mühsam wird es schon – die innere Harmonie des großen Ganzen stört man nicht ohne Folgen.
Dieses Verwachsen-Sein des Staates hat konkrete negative Auswirkungen. Zunächst reduziert der Parteieinfluss die Qualität und Objektivität der staatlichen Leistung. Auf Dauer noch ernster sind aber die indirekten Folgen auf die Einstellung der Bürger zum Staat, denn die wahrgenommene Ungerechtigkeit erzeugt Ablehnung und Zorn. Unsere Beziehung zum Staat ist gestört und darunter leiden der Gemeinsinn und genau jene Identifikation mit dem Staat, wie sie uns für die Republik 21 vorschwebt. Daher muss es für uns alle zwei Ziele geben: die verwachsenen Ungerechtigkeiten aufzudecken und anzuprangern – und dann, einen neuen Staat zu entwerfen, der den alten Balast abgeworfen hat.