Conrad Seidl hat im Standard einen schönen längeren Text über die ÖVP geschrieben – lesen! An dieser Stelle werden daher einen Tag nach der offiziellen Bestellung von Sebastian Kurz zum neuen Bundesparteiobmann einige Fußnoten zu Seidls umfassendem Porträt dieser mitgliederstärksten Partei Österreichs ausreichen. Seidl weist darauf hin, dass die ÖVP vor allem durch ihre 20.000 Gemeinderäte bestimmt ist, die in lokalpolitischen Problemlösungen Sinnstiftung erfahren und eng mit der Bevölkerung in Kontakt stehen. In der Welt der ÖVP-Bünde und mit der starken Orientierung auf die Landespartei als regionales Nervenzentrum spielt für die lokalen ÖVP-Vertreter die Bundespolitik und der Bundesparteiobmann eine vergleichsweise kleine Rolle.
Aus Perspektive der bundesweiten Medien und der von ihnen bestimmten politischen Öffentlichkeit, gerade im urbanen Bereich, sieht das natürlich anders aus, hier wird vor allem die Spitze der Bundespartei wahrgenomnen. Die Landesorganisationen und Bünde der ÖVP erscheinen dann als ein unbegreiflicher Ballast und Störfaktor. Und die ÖVP selbst erscheint als die in dieser Hinsicht durchaus liebenswerte Partei all jener politischen Positionen, die überholt und nicht mehr haltbar sind, aber früher einmal als fast selbstverständlich galten. Damit repräsentiert sie ideologisch ein in sich ruhendes Österreich in seiner konservativen, anti-liberalen Charakteristik – im Gegensatz zur SPÖ mit ihrer Ideologie der sozialdemokratischen Aneignung aller Staatsinstrumente. Man ist versucht, die Volkspartei als die Österreich-Partei schlechthin anzuerkennen, mit allen guten und schlechten Eigenschaften dieses Landes.
So gesehen ist zu erwarten, dass Sebastian Kurz mit seinem Veränderungsprojekt scheitern oder jedenfalls nur an der Oberfläche des Universums Volkspartei kratzen wird.
Eine Partei mit derart tiefen Wurzeln ist kein geeignetes Vehikel für einen Bruch, das kann nur in Widersprüchlichkeiten enden, wenn etwa allfällige neue Vorschläge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik auf die Selbstverständlichkeiten der Landesparteien und Gemeindevertreter stoßen werden.
Lohnender wäre es daher, wenn Kurz einen ernsthaften Versuch unternehmen würde, im Bereich der ÖVP die illegitimen Verflechtungen von Partei- und parteinahen Organisationen mit den Organen des Bundesstaats und der Bundesländer anzugreifen. Jeder Österreicher ahnt, dass die jüngsten Enthüllungen zur Förderungsvergabe in Niederösterreich, illustriert am Beispiel der mittlerweile aufgelösten Erwin-Pröll-Privatstiftung, oder auch die Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe staatlicher Großaufträge wie der Eurofighter-Beschaffung oder der Vergabe des Behördenfunks Tetra, durchaus systemischen Charakter haben. Erst eine ÖVP, die glaubhaft einen klaren Schlussstrich unter derartige Praktiken und Verflechtungen gezogen hat, hätte eine Chance, einen Großteil der österreichischen Wähler für ein echtes österreichisches Reformvorhaben zu begeistern.