Montag, Oktober 6, 2025

Nach der Wahl: Der Weg zu neuer Gemeinschaft

Was bestimmt die Mehrheiten in der Demokratie? Am wenigsten: Wahlkämpfe. Sie kratzen nur an der Oberfläche einer Stimmungs- und Meinungslage, die in den Jahren davor wie geologische Schichten abgelagert wurde und sich verfestigt hat. Mit der Nationalratswahl vom 15. Oktober gibt es nun eine Momentaufnahme dieses Schichtenprofils. Sie wird uns für die nächsten Jahre begleiten. Der eine freut sich, die andere ist enttäuscht. Aber die Formung und Umformung des Stimmungsbilds in der Republik geht weiter, hört nie auf.

Die Wahl hat gezeigt: Viele Menschen wollen eine Systemveränderung, bei der aber ihre herkömmlichen Werte erhalten bleiben oder sogar stärker geschützt werden als bisher. Dieser Befund sollte der Ausgangspunkt sein für die nächsten Entwicklungen. Denn auch jene, die jetzt nicht gewählt wurden, müssen einsehen: Gegen die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerungsmehrheit lässt sich schlecht Politik machen, jedenfalls aber nicht regieren.

Ein scheinbarer Widerspruch in der gesellschaftlichen Entwicklung ist das Nebeneinander 1. dieser Sehnsucht nach Bewahrung von Traditionen, 2. des gleichzeitigen Wunsches nach dem Systembruch, und 3. der immer stärkeren Zersplitterung und Ausdifferenzierung der Kultur auf allen Ebenen unter den Überschriften Globalisierung, Informatisierung, und Soziale Medien als neuer Ort der Meinungsbildung. Es ist verständlich, dass die politischen Parteien versuchen, auf der einen oder anderen Seite dieser Bruchlinien Positionen zu beziehen. FPÖ und ÖVP schafften es im Wahlkampf, mit restriktiven Positionen zur Zuwanderung die Sicherung der herkömmlichen Werte anzudeuten. Hingegen setzten jene Kräfte, die stark den zukunftsgewandten Signalbegriff einer pro-europäischen Haltung verwendeten (Neos, Grüne, und teilweise SPÖ), auf das kulturell Neue, Differenzierte und die Möglichkeiten, die sich darin eröffnen.

Tatsächlich aber ist außerhalb von Wahlkampfzeiten klar, dass die gegenläufigen Trends zusammengebracht werden müssen: Die Welt entwickelt sich unaufhaltsam weiter und viele Menschen sehnen sich nach Sicherheit und Geborgenheit im Vertrauten.

Keiner politischen Partei wird es dauerhaft gelingen, in der ausschließlichen Betonung nur eines der beiden Phänomene die Bedürfnislage der Bevölkerung umfassend abzudecken. Daher geht es in den nächsten Jahren darum, positive Wege zu einer für die Menschen fühlbaren, sowohl neuartigen als auch Sicherheit und Geborgenheit stiftenden Gemeinschaft zu finden.

Das Neuartige wird dabei die Abgrenzung zu den unbehaglichen Verwucherungen des verwachsenen Staates sein müssen. Im Wahlkampf wurde diese Abgrenzung vor allem von der neuen ÖVP kommuniziert, die einen jugendlichen und daher unverbrauchten Spitzenkandidaten Sebastian Kurz als Verkörperung des Neuen präsentierte. Doch auch dieser Zauber wird spätestens in den Kompromissen des Regierungsgeschäfts in nicht allzu ferner Zeit verfliegen, und die enttäuschte Wechselwählergruppe wird daher bei den nächsten Wahlen das Neue ausnahmsweise nicht in den Gesichtszügen des Spitzenkandidaten suchen.

Das Gemeinschaftliche hingegen wurde in den letzten Jahren stark von Populisten aller politischen Richtungen betont, besonders von Rechtspopulisten, die eine homogene Volksgemeinschaft beschwören, aber auch von Linkspopulisten, die den Anspruch der ärmeren 95 Prozent auf das Vermögen der reichsten 5 Prozent als etwas beschreiben, das „uns“ zusteht. Wie die Geschichte lehrt, ist der Appell an Gemeinschaft äußerst manipulationsträchtig. Umso wichtiger wird es sein, ihn von der Inanspruchnahme durch zerstörerische Kräfte zu befreien. In der Präsidentschaftswahlkampagne von Alexander Van der Bellen war das 2016 mit der positiven Besetzung des Heimatbegriffs gelungen, wenn auch unter den besonders günstigen Umständen einer breiten symbolischen Mobilisierung aller Kräfte des Zentrums gegen einen rechtspopulistischen Gegenpol.

Abseits der Zuspitzung einer Präsidentschafts-Stichwahl fällt es offenbar schwerer, Gemeinschaft in positiver Weise in die politische Debatte zu bringen. Bessere Erfolgsaussichten haben dabei politische Akteure, die durch Verzicht auf die gängigen Verkürzungen der politischen Kampfrhetorik eine hohe Glaubwürdigkeit als konstruktive Kräfte erworben haben. Eine solche Glaubwürdigkeit entsteht zweifellos erst als Ergebnis längerer politischer Tätigkeit und lässt sich nicht kurzfristig in einer Kampagne nachholen. Eine Vorbedingung für einen solchen positiven Gemeinschaftsbegriff wäre jedenfalls das Entstehen einer laufenden kritischen Diskussion in der Öffentlichkeit über verschiedene Arten der Anrufung von Gemeinschaft. Welche sind wünschenswert, welche manipulativ und sachlich nicht gerechtfertigt?

Ein Beispiel zur Illustration: Auf Seite 18 des 3. Teils des Wahlprogramms der ÖVP, Titel „Ordnung und Sicherheit“, findet sich neben anderen vergleichbaren Formulierungen der Satz:

Wir müssen selbst entscheiden, wer bei uns einreist, und die Obergrenze für illegale Zuwanderung auf null setzen.“ (Hervorhebung im Original)

In diesem Satz kommt zweimal ein „Wir“ vor. Die zweite Verwendung, „bei uns einreisen“, ist recht unproblematisch – sie verweist auf das Wir der in Österreich lebenden Menschen, also den Adressaten demokratischer Politik schlechthin. Aber die erste Verwendung ist manipulativ, denn sie deutet eine Ermächtigung des Bürgers zur Entscheidung über Einreiserlaubnisse ein. Doch diese Macht steht dem Bürger nicht zu – derartige Fragen sind in einem modernen Staat von einer Migrationsbürokratie zu entscheiden, nicht vom Volk. Die Formulierung deutet jedoch der Aufhebung der modernen Gewaltentrennung an, dem Volks-Wir wird unmittelbare Entscheidungsmacht über die einreisewilligen Anderen versprochen – eine Andeutung, die die ÖVP natürlich niemals umsetzen würde, es handelt sich um eine rein rhetorische Operation in Wahlkampfzeiten. Dennoch: Die Entgiftung des Anrufens von Gemeinschaft in der demokratischen Debatte wird mit solchen kleinen und kleinsten Interventionen beginnen müssen.

All jene Spaltungen der Wählerschaft – nach Stadt und Land, nach Bildungsniveau, nach Alter – die zuletzt zunehmend polarisiert haben, können nur auf dem Weg des kritischen Überprüfens und der Konsenssuche überwunden werden, in vielen kleinen Schritten und durch klug ausbalancierte Gesetzesinitiativen. Werden die Parlamentsparteien dazu bereit sein?

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